Podiumsdiskussion

 “The Past is Now: Politik der Verleugnung und Vergangenheitsaufarbeitung im Westbalkan“

Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Beginn der Kriege, die den Zerfall Jugoslawiens begleiteten, befasst sich die Ausgabe 2023 von „Perspectives Southeastern Europe“ mit der Politik der Verleugnung, dem Umgang mit der Vergangenheit und der Erinnerungskultur im Westbalkan. Die Ausgabe zieht Bilanz über die aktuelle Situation in den postjugoslawischen Ländern und zeigt, wie die Kriegsvergangenheit die Gegenwart in den betroffenen Gesellschaften immer noch beeinflusst.

Die Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Belgrad und Sarajevo haben mehr als zwanzig Autor:innen aus der gesamten Region eingeladen, sich mit der gemeinsamen Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen und einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart zu leisten. Die Ergebnisse ihrer Arbeit umfasst die neueste Ausgabe des Magazins „Perspectives Southeastern Europe“ unter dem Titel „The Past is Now: Politik der Verleugnung und Vergangenheitsaufarbeitung im Westbalkan“.

Einige der Autor:innen laden wir nach München ein, um gemeinsam den Stand der offiziellen Erinnerungspolitik in Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien zu diskutieren.

Angesichts des breiten Widerstands aus Politik und Gesellschaft gegen „unerwünschte Erinnerungen“: Hat eine Gedenkpolitik, die den Erinnerungen der Opfer gerecht wird und die Verantwortung für Gräueltaten benennt, überhaupt eine Chance?

Perspectives Southeastern Europe ist eine Zusammenarbeit der HBS-Büros in Belgrad und Sarajevo.

 „Mehr als dreißig Jahre sind seit dem Beginn der Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Sozialistischen Föderativen Jugoslawiens vergangen, und in diesen drei Jahrzehnten wurde das, was einst ein gemeinsamer Staat und eine Heimat für Millionen von Menschen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Identität war, in eine so genannte Region verwandelt, ein nebulöser Begriff, der seine breite Akzeptanz gerade dem Fehlen jeglicher Präzision und Gewichtung in Bezug auf Geografie, Werte und Ideologie verdankt. Fragmente eines Landes, seine konkrete Geschichte, seine politische und soziale Organisation werden so durch eine laue Definition vereint, die niemandem am Herzen liegt, aber auch niemanden beleidigt, zumindest nicht allzu sehr.“

Tamara Šmidling Researcher, Centre for Public History Belgrade, Serbia

„Krieg ist nicht nur heute im Alltag präsent, Krieg, der nie wirklich beendet wurde, ist ein Punkt, zu dem wir immer wieder zurückkehren. Die Erinnerungspolitik hat Krieg und Leid (ausschließlich) der eigenen Ethnie so überhöht, dass es schwierig wird, angesichts des ultimativen Arguments – Krieg und damit (ethnisches) Leid und Heldentum – für irgend einen anderen Wert einzutreten.“
…„Was man aus dem bosnischen Beispiel der Vergangenheitsbewältigung lernen kann? – Was man nicht tun sollte. “

Lejla Gačanica, Independent researcher and political analyst, Sarajevo

Vildana Selimbegović, Editor-in-chief, Media Group Oslobođenje, Sarajevo, beklagt das Verharren ihres Landes im immer gleichen Thema Krieg, während in EU Nachbarländern wie Slowenien Debatten über Lebenspartnerschaften geführt werden. „Wie beneideten wir sie! In unserem Bosnien und Herzegowina war (und ist) das Thema aller Themen Krieg, Hass und die Anschuldigung von Verbrechen, die gegen Mitglieder des eigenen Volkes begangen wurden – und nicht die Themen um derentwillen sie begangen wurden.“

Zur Zukunft der regionalen Vergangenheit, Mirko Medenica, Lawyer and human rights activist, Belgrade,  „Mythen, die Krieg und Gewalt rechtfertigten und die Gesellschaft für den Krieg mobilisierten, werden heute wiederbelebt. Die politische Elite an der Macht erzwingt diese Narrative, es sind Techniken der Regierungsführung und des Machterhalts…Diese Situation kann als ein Witz über den langsamen Prozess des EU-Beitritts beschrieben werden – ‘wenn wir der EU nicht beitreten wollen, wird die EU zu uns kommen‘ – und in der Tat erinnert das, was wir heute auf dem ganzen Kontinent hören, auf unheimliche Weise an die Reden von Regionalpolitikern in den 1990er Jahren.“

„Es gibt einen realen, sogar physischen Kampf zwischen widersprüchlichen und gegensätzlichen Ansichten über die Fakten und das Erbe der Kriege und Kriegsverbrechen. Andererseits hat man den Eindruck, dass die breite Öffentlichkeit dieser Themen und Diskussionen über unerwünschte Erinnerungen weitgehend überdrüssig ist.“

Orli Fridman, Associate Professor, Faculty of Media and Communications (FMK), Belgrade, Serbia, and Academic Director, School for International Training (SIT)

12. Juni 2023 / IBZ